Die Sträggele Hexe - Eine Schauergeschichte

Seit urdenklichen Zeiten liegt vor dem nordwestlichen Tor des Städtchens Sempach der Meierhof. Hier wohnte einst ein Meier mit seiner Familie. Sie hatten ein Mädchen, das nicht gern gehorchte, den Trotzkopf machte und den Eltern schnöde Antworten gab. Besonders wollte es an den Abenden nie heimkommen. Die Mutter sagte oft warnend zum Kind: «Dich holt gewiss noch einmal die Sträggelen.» Doch alles Mahnen und Zureden, Schimpfen und Drohen fruchtete nichts.

Als nun eines Winters die Sträggelennacht nahe war und die Kleine wieder so unrecht tat, da nahm die Mutter den Knecht in die Hinterstube herein und sagte zu ihm: «Heute Abend will ich unsere Tochter erschrecken, sie folgt mir gar nicht. Wenn es zugedunkelt hat, musst du vor das Haus kommen. Klopfe an das Fenster und dann gebe ich dir unsere Tochter hinaus. Stecke sie in einen Sack und bringe sie dann nach einiger Zeit wieder zurück. Vielleicht gehorcht sie nachher besser.» Die Sträggelennacht senkte sich finster und unheimlich hernieder. Als der Uhu droben im Mühlital seinen Geistergesang anfing und das Käuzchen im Wachtturm schrie, tat die Kleine wieder wie losgelassen.

Da nahm die Mutter ihr Kind und ging mit ihm zum Fenster. Sie öffnete dieses und rief in die finstere Nacht hinaus: «Sträggelen, komm und nimm mein Kind!» Das Mädchen hob sie zum Fenster und reichte es hinaus. Da, ein entsetzlicher Schrei! Das Kind spürte sich am Arme gepackt und in die dunkle Nacht hinausgezogen. Dann war es still. Nachdenklich schloss die Mutter das Fenster und begab sich an den Tisch zu den andern, um mit ihnen zu beten. Kaum hatte sie sich hingesetzt, klopfte es erneut an die Scheibe. Vor Schrecken erbleicht ging sie hin und schaute durch das Glas, die Spiegelungen der leicht erhellten Stube mit beiden Händen abdeckend. Da erkannte sie eine dunkle Gestalt und öffnete das Fenster. Als kein Kind herausgereicht wurde, erkundigte sich eine Stimme – es war die des Knechtes – wo denn nun die Tochter sei. Entsetzen erfasste die Frau und sie fragte: «Warst du nicht eben schon hier? Hab ich dir das Kind nicht schon gegeben?» Der Knecht verneinte. Da ergriff die Mutter furchtbare Angst. Sie eilte hinaus, dem Kinde zu rufen, es zu suchen, aber welches Entsetzen ergriff sie: An der Haustüre angehängt fand sie die beiden Haarzöpfe ihres Töchterchens!

Die Drohung war zur Wirklichkeit geworden: Die Sträggelen hatte das Kind geholt. In der Nähe des Hauses fand man die Kleidchen des unglücklichen Mädchens. Dort liess die Mutter eine Kapelle errichten, die eben heute noch steht. Und seit jener Zeit brachten Eltern, deren Kinder schwer zu erziehen waren, Zöpfe aus Flachs und Ruten aus Birken als Opfer in diese Kapelle. Noch manche Jahre soll man im Mühlital, wo die Sträggelen haust, in den Fronfasten im Advent das Weinen des Kindes gehört haben.